28
SEP
2015

Ihre Würde verloren sie nicht

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Zeitzeugen berichten vor Realschülern des 10. Jahrgangs

„Es war die Hölle auf Erden…“

Zum zweiten Mal in Folge besuchten polnische KZ-Überlebende die Wölfersheimer Singbergschule, um den Schülerinnen und Schülern von einer durchlittenen Zeit zu berichten, die an Grausamkeit und Menschenverachtung nicht zu überbieten ist.

 „Ihr werdet gleich eine Geschichtsstunde der besonderen Art erleben“, so begrüßte der Direktor der Singbergschule Thomas Gerlach drei zehnte Realschulklassen, bevor er seinen Dank an die drei Zeitzeugen Bronisława Czeczułowska, Krystyna Gil und Jerzy Wójciewski richtete. Realschulzweigleiter Thomas Küchenmeister deutete auf eine große Karte Mitteleuropas: „Ausschwitz war kein kleines Dörfchen versteckt gelegen in einer nicht wahrnehmbaren Einöde. Ganz im Gegenteil: Auschwitz lag innerhalb der damaligen Grenzen relativ zentral und unübersehbar in einer Industrieregion ähnlich der des heutigen Ruhrgebiets.“

 Die Singbergschule war die dritte Schule der Wetterau, vor der die polnischen Zeitzeugen im Rahmen ihrer diesjährigen Besuchswoche sprachen. Drei weitere sollten folgen. „Sicherlich ist das für die Betroffenen aufwühlend und anstrengend, doch – wie sie selbst sagen – dient es auch der Aufarbeitung“, sagte Herrmann Düringer, Vorsitzender des Vereins „Zeichen der Hoffnung“. Die evangelische Initiative setzt sich für eine bessere Verständigung zwischen Polen und Deutschen ein. „Das Interesse und die Anteilnahme der Jugendlichen rühren uns immer wieder. Auch deshalb möchten wir ihnen diese besonderen Begegnungen so lange es geht ermöglichen.“

Gänsehaut im Klassenzimmer

„1942 vertrieb man uns aus unserer Heimatstadt Zamość in Ost-Polen, um gemäß Nazi-Ideologie neuen Lebensraum für die Deutschen zu schaffen“, berichtete Bronisława Czeczułowska. „Ich war 13 Jahre alt, als sie meine Mutter und mich nach Auschwitz-Birkenau deportierten. Wir mussten uns nackt ausziehen, dann schoren sie uns kahl. Auf meinen Arm tätowierten sie die Nummer 27994, die somit meinen Namen ersetzte.“ Zwangsarbeit bei Extremtemperaturen und der Kampf um Nahrung bestimmten den Tag. „In Baracken zusammengepfercht, krank, hungrig und von Ungeziefer befallen, warteten wir auf den Tod. Die täglichen Apelle dokumentierten die vielen Leichen, die jeden Morgen aus den Verschlägen getragen wurden“, erzählte sie weiter. „Eines Tages holten sie meine Mutter ab. Sie winkte mir wissend zum Abschied“, schilderte sie mit stockendem Atem. Eine Mitinsassin wurde zu einer Art Ersatzmutter, die sie anhielt, sich um die über hundert kleinen, völlig verwahrlosten Kinder im Lager zu kümmern. Eine schier unlösbare Aufgabe.

Jerzy Wójciewski engagierte sich nach dem Warschauer Aufstand im Widerstand. Bis man ihn aufgriff, brutal verhörte und anschließend zuerst nach Pruszków und später Dachau verschleppte. „Ich gehörte zu den 1060 Männern, die von Daimler Benz für ihre Arbeiten ausgesucht wurden. Sie brachten uns nach Sandhofen bei Mannheim. Während des sechs Kilometer langen Fußmarschs zur Arbeit bewarfen uns die Einheimischen mit Essensresten und verhöhnten uns“, berichtete er. Unter den Aufsehern hätte es aber auch Deutsche gegeben, die heimlich versuchten, mit ein bisschen Essen zu helfen. Später erkrankte Jerzy Wójciewski an Typhus.

Grenzenlose Qual und Pein

Als Roma wurde Krystyna Gil und ihre Familie von den Nazis verfolgt. Am 3. Juli 1943 überfielen sie ihr Dorf und massakrierten zuerst alle Männer sowie anschließend Frauen und Kinder. Durch einen Zufall überlebten Krystyna Gil und ihre Großmutter. „Die meisten wurden erschossen, die Kinder durch einen Schlag an die Friedhofsmauer getötet. Sie schichteten die insgesamt 93 Körper in eine Grube und verscharrten sie. Nicht alle waren wirklich gleich tot“, berichtet Krystyna Gil um Worte ringend. Gil wurde aufgegriffen, ins Lager Płaszów gebracht, um dort vier Monate lang durch die Hölle zu gehen. Eine Woche vor Kriegsende verhalf ihr ein Aufseher zur Flucht.

Das Lagerleben hinterließ seelische und körperliche Spuren. Jerzy Wójciewski wog bei seiner Befreiung gerade noch 29 Kilogramm, Bronisława Czeczułowska litt an Tuberkulose.

Auf dem Lehrplan steht dieses dunkelste Kapitel deutscher Geschichte für die Schüler erst im kommenden Jahr. Natürlich wurden jedoch als Vorbereitung auf die Veranstaltung umfassende Gespräche im Unterricht geführt. Doch kann man sich für diese Art des Dialogs nicht wirklich wappnen. Trauer, Mitgefühl und Hochachtung erfassten alle Anwesenden spürbar. „Wenn Sie Ihre Peiniger heute sprechen könnten, was würden Sie sagen?“, „Können Sie heute wieder ruhig schlafen?“ und „War Ihnen nach dem Terror noch Glück vergönnt?“ so die Fragen der Jugendlichen.

Vereinsmitglied und Friedensaktivistin Adelheid Müller organisiert diese Begegnungen in der Wetterau seit nunmehr fünf Jahren: „Kürzlich winkten mir an der Ampel ein paar Gymnasiasten aus einem Auto zu. Sie riefen: ‚Kommen Sie nächstes Jahr wieder?‘ Da wusste ich, dass sich unsere Arbeit lohnt.“

Bildergalerie „Zeitzeugen berichten“