Zeitzeugengespräch mit R. Laubinger
„Es ist keine Anklage. Ihr seid jedoch die Zukunft und von euch hängt vieles ab!“
Über das Zweitzeugengespräch mit Ricardo Laubinger, dem Gründer und Vorsitzenden der Sinti-Union Hessen
Am 27. Juni 2024 hatten die 9. und 10. Klassen der Singbergschule Wölfersheim die Gelegenheit, einem Zweitzeugengespräch mit Herrn Ricardo Laubinger, einem Sinto, beizuwohnen. Die von Frau Pietsch organisierte Veranstaltung hinterließ bei allen Beteiligten einen tiefen Eindruck.
Zu Beginn der Veranstaltung gab Frau Pietsch, Geschichtslehrerin und Beauftragte des Bereichs „Öffnung von Schule“ einen kurzen Ausblick auf den Ablauf der zwei folgenden Stunden. Anschließend wurde ein eindrucksvoller Kurzfilm gezeigt, der durch Bilder und Dokumentaraufnahmen die Gräueltaten des Holocausts veranschaulichte. Diese visuelle Einführung schuf eine ernste und nachdenkliche Atmosphäre und bereitete die Schüler auf das bevorstehende Gespräch mit Herrn Laubinger vor. Laubinger betonte im Anschluss, dass in der NS-Zeit nicht nur Juden, sondern auch viele andere Gruppen, darunter die Sinti und Roma, unter dem Terror der Nationalsozialisten litten.
Laubinger, geboren im Jahr 1959, musste die Schrecken des Holocausts nicht selbst erleben. Er berichtete jedoch eindrucksvoll von den Erlebnissen seiner Familie während des Zweiten Weltkriegs, die ihm seine Eltern erzählt hatten. Diese persönlichen Geschichten gaben den Schülern einen tiefen Einblick in die Leiden und das Überleben der Sinti während dieser dunklen Zeit.
Laubingers Familie wurde von den Nationalsozialisten verfolgt und in verschiedene Konzentrationslager deportiert. Er erzählte die Geschichte seiner Mutter, die als einzige ihrer Familie die Grauen von Auschwitz überlebte. Mit großer Emotionalität sprach Laubinger über die Erlebnisse seiner Mutter, die ihre Geschwister und Eltern in den Lagern verlor und teilweise sogar die Morde mit ihren eigenen Augen verfolgen musste. Besonders erschütternd war die Schilderung, dass Dr. Mengele an den Cousins von Herrn Laubinger experimentiert haben soll.
Neben den Erzählungen über die Vergangenheit berichtete Herr Laubinger auch von den andauernden Diskriminierungen nach dem Krieg. Obwohl dieser lange vorbei war, endeten die Vorurteile und die Benachteiligung nicht. Sinti hätten sich regelmäßig bei der Polizei melden müssen. Dabei habe man von ihnen und sogar ihren Kindern Fotos gemacht und Fingerabdrücke genommen. Sie seien wie Verbrecher behandelt worden. Zudem seien alle Wiedergutmachungsanträge seiner Mutter abgelehnt worden. Besonders absurd sei die Ablehnung des Antrags für seinen Onkel gewesen, der mit nur zwei Monaten ins KZ gekommen sei.
1978 erlebte Herr Laubingers Familie ein unerwartetes Wiedersehen mit einem totgeglaubten Halbbruder. Zuvor hatte die Kriminalpolizei der Familie fälschlicherweise mitgeteilt, dass dieser bereits im KZ umgebracht worden wäre.
Diese persönlichen Einblicke in die Nachkriegszeit machten den Schülern deutlich, dass die Auswirkungen des Holocausts und die Diskriminierung der Sinti und Roma bis in die Gegenwart reichen. Die Erzählungen von Herrn Laubinger waren nicht nur eine bewegende Geschichtsstunde, sondern auch eine wichtige Mahnung an die jungen Zuhörer. Die Schüler waren sichtlich betroffen und stellten im Anschluss viele Fragen, die Laubinger geduldig und offen beantwortete. Die Schüler waren besonders an den Sitten und den Unterschieden zwischen Sinti und Roma interessiert. So erfuhren sie, dass es den Sinti nicht gestattet ist, ihre Sprache an andere Völker weiterzugeben. Diese Restriktion solle einen Schutz darstellen, da die Sprache während der NS-Verfolgung gegen die Bevölkerungsgruppe angewandt wurde.
Die Veranstaltung war ein eindrucksvoller Beweis dafür, wie wichtig es ist, die Geschichten der Vergangenheit zu bewahren und weiterzugeben. „Durch die persönlichen Berichte von Zweitzeugen wie Herrn Laubinger sowie Zeitzeugen wird Geschichte lebendig und erhält eine unmittelbare Bedeutung. Es ist unsere Verantwortung, diese Erinnerungen zu bewahren und aus ihnen zu lernen, um eine bessere Zukunft zu gestalten“, so Katharina Pietsch.
Ein herzliches Dankeschön gilt der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung für ihre finanzielle Unterstützung der demokratiefördernden Veranstaltung.
Ein Bericht von Gabriela Wojnicka